Massenerschießungen
Begonnen hatte die systematische Ermordung von Roma und Sinti im Sommer
1941, ausgelöst durch den Überfall des NS-Regimes auf die UdSSR
("Unternehmen Barbarossa"). Als Komplizen und Spione des
"jüdischen Bolschewismus" eingeschätzt, fielen sie zu
Tausenden den Massenerschießungen der "SS-Einsatzgruppen" (Sondereinheiten zur Bekämpfung politischer Gegner), die – unterstützt durch
Wehrmachtseinheiten – hinter der deutschen Front mordeten, zum Opfer. Die
deutsche Sicherheits- und Ordnungspolizei richtete ihr Hauptaugenmerk im
Gegensatz zur innerdeutschen und österreichischen Vorgehensweise auf die
fahrenden, als "stammecht" und endogam eingestuften Roma,
die dem Bild des Spions am ehesten entsprachen.
Auch unter den Opfern des Massenmordes von Babi Jar bei Kiew, den die
"Einsatzgruppe C" mit aktiver Beteiligung der "6.
Armee" durchführte, befanden sich neben etwa 33.000 Juden auch
Hunderte Roma. Wie in der Sowjetunion wurden auch in Polen und in den anderen
von den Nationalsozialisten okkupierten Gebieten Osteuropas und des Balkans
mehr Roma und Sinti durch Massenerschießungen als in den Lagern umgebracht.
Konkrete Zahlen sind nicht eruierbar, die Schätzungen gehen jedoch davon aus,
dass es weit mehr als 100.000 Personen gewesen sein dürften, die außerhalb des
Lagersystems ermordet wurden.
In Serbien, ab 1941 unter deutscher Besatzung,
waren die Vergeltungsexekutionen gleichbedeutend mit der Vernichtung der
Roma-Minderheit. Im Unterschied zur Vorgehensweise im Osten wählten die
"Einsatztruppen" hier die Mordopfer aus, während die
"Wehrmacht" die Erschießungen vornahm. Harald Turner, Chef
des deutschen militärischen Verwaltungsstabes, erklärte 1942, dass
"(…) Serbien (das) einzige Land (ist), in dem (die)
Judenfrage und (die) Zigeunerfrage gelöst (ist)". Hinzuzufügen wäre, dass
die "Einsatzgruppen" und die "Wehrmacht"
teils tatkräftig von den
lokalen faschistischen Organisationen unterstützt
wurden. In Kroatien waren es "Ustascha"-Milizen, in Ungarn,
ab 1944 unter deutscher Besatzung, die "Pfeilkreuzler", die
Massenerschießungen durchführten bzw. Deportationen organisierten.
Das Ghetto Łódź
Wie bereits erwähnt wurde, sollten Roma und Sinti
"nur bis zu ihrem endgültigen Abtransport" ("Schnellbrief" Himmlers) in das "Generalgouvernement
Polen" in den "Sammellagern" interniert bleiben. Im jüdischen
Ghetto von Łódź wurde 1941 auf Befehl Himmlers ein
"Zigeunerlager" eingerichtet. Die SS, der "jüdische
Ordnungsdienst" und eine eigens organisierte
"Zigeunerpolizei" hatten das Viertel vom übrigen Ghetto und
der Außenwelt strikt abzuriegeln. Keine Information über die Lagerbedingungen
sollte durchsickern. Zwischen dem 5. und dem 9. November 1941 trafen insgesamt
5 Transporte mit jeweils 1.000 Roma und Sinti aus Österreich im Ghetto Łódź
ein. 2 Transporte kamen aus Lackenbach, die übrigen aus den Lagern Hartberg,
Fürstenfeld, Rotenturm und Oberwart. Mitglieder der SS und des
"Reichsarbeitsdienstes" bewachten das Lager und
verpflichteten einen Teil der Internierten zur Zwangsarbeit. Die Roma und Sinti
mussten auf den Fußböden schlafen und erhielten weder Medikamente noch
ausreichende Ernährung. Nach kurzer Zeit brach Flecktyphus aus. Die ca. 4.400
Personen, die Anfang Januar 1942 noch am Leben waren, wurden auf Lastwägen in
das Vernichtungslager Chełmno transportiert und in Gaswägen ermordet. Keiner
der 5.000 österreichischen Roma und Sinti hat überlebt.
Der
"Auschwitz-Erlass"
Heinrich Himmler erteilte am 16. Dezember 1942 die Weisung, alle noch im
"Deutschen Reich" befindlichen Roma und Sinti nach Auschwitz
zu deportieren. Der
"Auschwitz-Erlass" war die endgültige Offenlegung
eines de facto seit 1938 bestehenden und zum Teil auch ausgeführten Plans zur
vollständigen Vernichtung der Roma und Sinti. Himmlers Deportationsbefehl
richtete sich gegen alle
"Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und balkanische
Zigeuner", wobei der "Mischlingsgrad" nicht mehr von
Bedeutung war. Eine Ausnahmeregelung für sozial angepasste sowie für eine
kleine Gruppe "reinrassiger Zigeuner", die als
"Museumsstücke" in einem Himmler’schen Freilichtmuseum
dienen sollten, bestand nur auf dem Papier.
Im so genannten "Zigeunerfamilienlager" Auschwitz
waren insgesamt 22.700 Roma und Sinti, die zum überwiegenden Teil aus den
"Sammellagern" in Deutschland, Österreich (2.760), Polen,
Böhmen und Mähren stammten, auf engstem Raum zusammengepfercht. Als Unterkünfte
dienten 32 Holzbaracken, die ursprünglich als Pferdeställe für jeweils 52
Pferde gedacht waren. Bis zu 600 Roma und Sinti waren in einer Baracke
untergebracht. Dementsprechend katastrophal waren die sanitären Verhältnisse.
Bereits nach wenigen Monaten waren Hunderte Roma an Unterernährung, den Seuchen
und der Zwangsarbeit gestorben. Roma und Sinti wurden zu schwersten
lagerinternen Erd- und Bauarbeiten eingesetzt. Unter den Kindern wütete die
Hungerseuche "Noma" (Wasserkrebs). Hinzu kam, dass das
Lagersystem von internen Machtstrukturen, die Kategorien von Insassen schufen
und den Alltag entscheidend beeinflussten, geprägt war. Politische Häftlinge
standen am oberen, Juden, Roma und Sinti am unteren Ende der Hierarchie. Stereotype und Vorurteile wurden in die Lagergemeinschaft übernommen. Die von der SS festgesetzten Erkennungszeichen
verhalfen zu einer raschen Orientierung. Roma und Sinti erhielten einen braunen
bzw. schwarzen Dreieckswinkel, die Häftlingsnummer mit dem Vorzeichen
"Z" wurde im Unterarm eintätowiert.
Von allen Lagern des KZ Auschwitz hatte das
"Zigeunerlager" die höchste Todesrate. 19.300 Menschen
fielen dieser Vernichtungsmaschinerie zum Opfer; 5.600 wurden vergast; 13.700
erlagen dem Hunger, den Krankheiten, Seuchen und medizinischen Experimenten.
Letztere dienten dazu, einen Nachweis für den schicksalhaften Einfluss von
Rasse und Vererbung zu erbringen. Die Phantasie der dafür zuständigen Ärzte,
allen voran Josef Mengele, kannte dabei keine Grenzen. Roma und Sinti wurden
Salzlösungen und Typhusbazillen injiziert, die Ärzte experimentierten mit
Farbpigmenten, nahmen Herzinjektionen selbst vor, um die Augen von Zwillingen
zu untersuchen. Verfehlt wäre es allerdings in diesem Zusammenhang, die Täter
als unmenschliche Dämonen und Teil eines isolierten Horrorkabinetts zu
betrachten, was lediglich einer Entmenschlichung und Tabuisierung Vorschub
leisten würde. Die Ärzte, SS-Mitglieder und Wehrmachtsangehörige handelten
durchaus im Sinne eines allgemeinen Wissenschaftsverständnisses und einer
breiten Öffentlichkeit.
Auschwitz steht stellvertretend für zahlreiche weitere
Konzentrationslager, in die Roma und Sinti zum Teil
bereits vor, systematisch jedoch erst nach dem
"Auschwitz-Erlass" deportiert und dann industriell
vernichtet wurden. Darüber hinaus wurde der zweite Teil der Ausrottungspolitik,
die Zwangssterilisierung, sowohl innerhalb des Lagersystems als auch außerhalb
in den Krankenhäusern in Angriff genommen. Tausende Roma, zumeist Mädchen und
Frauen, mussten diese oft ohne Narkose vorgenommen Eingriffe über sich ergehen
lassen. Ein beträchtlicher Teil starb bereits während der Operation. Die
Überlebenden leiden bis heute nicht nur unter den häufigen Folgeerkrankungen
und den traumatischen Erinnerungen, sondern müssen sich auch in einer Kultur
zurechtfinden, die Kinderreichtum mit Glück und Ansehen, Kinderlosigkeit
hingegen mit Schande und Unglück verbindet.
Was die Gesamtanzahl der Opfer in
Europa betrifft, gibt es nach wie vor nur sehr vage Schätzungen. Sie variieren
zwischen 250.000 und einer halben Million Roma und Sinti, die in den
Konzentrations-, den Arbeitslagern und bei Massenerschießungen ermordet wurden. In Ungarn, Rumänien, Russland und
der Slowakei starben jeweils ca. 30.000-35.000, in Serbien und Kroatien ca.
90.000. Ungefähr 20.000 westeuropäische Roma und Sinti, vor allem aus
Frankreich und den Benelux-Staaten, wurden in die Vernichtungslager nach Polen
deportiert. Von den ca. 10.000-11.000 österreichischen Roma, Sinti und Lovara starben mindestens 80%. Nur ca. 600-700 Burgenland-Roma haben den Holocaust
überlebt. Es besteht heute kein Zweifel mehr darüber, dass es sich um einen
rassistisch motivierten Völkermord gehandelt hat. Roma und Sinti wurden wie die
jüdische Bevölkerung zuerst entrechtet, dann interniert und schlussendlich
vernichtet.
Die Überlebenden waren in ganz Europa auch nach dem Krieg mit denselben
Vorurteilen konfrontiert, die sie bereits vor 1933 bzw. 1938 ertragen mussten. Zur
Entwicklung eines Unrechtsbewusstseins in der Mehrheitsbevölkerung kam es erst
ab den späten 70er Jahren, wobei die Initiative von Romaorganisationen ausging,
die sich ab diesem Zeitpunkt langsam etablieren konnten. Diese
Vorurteilskontinuität wirkte sich auch auf die so genannten
"Wiedergutmachungszahlungen" aus. Nur einer Minderheit der
überlebenden deutschen und österreichischen Roma und Sinti gelang es, ihre
Ansprüche geltend zu machen. Die österreichischen und deutschen Täter blieben
hingegen zumeist straffrei oder wurden nach kurzer Haftstrafe amnestiert. Die
wenigen Roma, die sich dem Druck nicht beugten und Anklage erhoben, wurden in
vielen Fällen neuerlich diskreditiert und als Lügner
abgestempelt.
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Literatur
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Landeszentrale für politische Bildung
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Vossen, Rüdiger (1983) Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und Romantisierung, Hamburg. |
Wippermann, Wolfgang (1997) Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin. |
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